GEDENKANLASS IN BELLINZONA

27.03.2018 11:00

Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident

Sehr geehrter Herr Präsident des Regierungsrates

Sehr geehrte Damen und Herren

Liebe Freunde

 

Es steht ein Opfer von Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor Euch. Ein Opfer, das während der ganzen Kinder- und Jugendzeit die schützende Hand des Staates schmerzlich vermisste.

 

Weil unehelich geboren und – so meine Vermutung – aus ärmlicher Unterschicht stammend – wurde ich als wenige Tage alter Säugling von meiner Mutter getrennt und ins Heim abgeschoben. Dort blieb ich 17 Jahre, lernte beten, arbeiten und gehorchen.

 

Wie ein Familienleben aussah, erspähte der kleine Bub Sergio jeweils an Sonntagen durch das Schlüsselloch, wenn sich die Heimleiterfamilie mit ihren vier Buben in ihre Gemächer zurückzog und uns Heimkinder draussen liess. Ich hatte nie das Glück, ein Familienkind zu sein. Mein Heimleben war geprägt von sehr schmerzhaften Entwurzlungen. Dem von Bellinzona bestellten Vormund begegnete ich ein einziges Mal. Als 11-Jähriger Bub holte er mich im „Dio aiuta“ in Pura ab und brachte mich nach Bellinzona ins Istituto „von Mentlen“, ohne Worte, stumm. Von dort wurde ich in andere Heime umplatziert, bis ich schliesslich im „Dio aiuta“ in Zizers GR landete. Das Heimweh das ich kennenlernte, wurde ich zeitlebens nicht mehr los. Dass es niemanden interessierte, was ich fühlte und dachte hinterliess in mir tiefe Spuren. Ein Kind, dem man keine Antworten gibt, wenn es etwas über die Umstände seiner Geburt erfahren will, glaubt, dass ein Makel an ihm haftet. Etwas schmutziges, Böses.

 

Wer für dieses Unrecht verantwortlich war, wer welche Entscheide getroffen und umgesetzt hat, bleibt bis zum heutigen Tag im Dunkeln. Die Archive des Staates wie auch die Archive der Heime, in denen ich lebte, tragen wenig bis gar nichts zur Erhellung der damaligen Vorgänge bei. Viele Akten wurden willentlich zerstört.

 

So wie die Gesellschaft dieses dunkle Kapitel Schweizerischer Sozialgeschichte über viele Jahrzehnte verdrängt und verleugnet hat, so habe auch ich mein Heimleben 60 Jahre lang vor meinen Mitmenschen verborgen gehalten. Dies aus Scham und verinnerlichter Schuldzuschreibung. Wie zwei Geschwister habe ich diese Scham und diese Schuld in mir getragen, unfähig, mich davon zu befreien.

 

Wie hat es Salman Rushdie doch treffend formuliert: "Wer sein Leben nicht erzählen kann, existiert nicht"

  

Dieses kulturelle Erbe der Ignoranz, des Schweigens und des Verdrängens haben die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ausbaden müssen. Das hatte zur Folge, dass bei vielen Betroffenen schlimme und peinigende seelische Wunden geschlagen wurden, Wunden, die nur schwer zu heilen vermochten und prägende Narben zurückliessen.   

 

Auch die Behörden meines Heimatkantons Tessin, zu dem ich aus biografischen Gründen eine gewisse Hassliebe entwickelt habe, wussten seit langem, was damals hinter den Mauern der Anstalten und Heime geschah. Sie wussten von den gewaltsamen Trennungen von Kindern von ihren Müttern. Sie wussten von den sexuellen Übergriffen, religiösen Beeinflussungen und strengster Kinderarbeit. Durch ihr Schweigen, bzw. Wegschauen förderten sie die gesellschaftliche Tabuisierung, was die dringend nötige Aufarbeitung um Jahre verzögerte.

 

Ich erinnere an den biografischen Roman von Giovanni Bonalumi, „gli ostaggi“. Das Buch wurde im Tessin der 50iger-Jahre als kirchenfeindlich totgeschwiegen. Darin beschreibt Bonalumi das Leben eines Jugendlichen, der nach dem Tod seines Vaters, als Zehnjähriger, in ein katholisches Internat kommt, wo er auf ein keusches leben als Priester vorbereitet werden soll. Während er selbst keinerlei Berufung spürt, wirkt die sinnlich-lebendige Welt ausserhalb der Internatsmauern so intensiv und verlockend auf den verträumten jungen Mann, dass er sich wie eine Geisel Gottes vorkommt.    

 

Der Anstoss zur Benennung und Aufklärung der skandalösen Vorkommnisse kam nicht von oben. Er kam nicht vom Staat und nicht von den Kirchen, nicht von der „Koalition der Verantwortlichen“ und deren Rechtsnachfolger der damaligen Handelnden bzw. Nichhandelnden.

 

Es waren die Opfer selber, Verding- und Heimkinder, Administrativ Versorgte, eugenisch behandelte, Zwangsadoptierte, die mutig voranschritten und offen über ihr trauriges Schicksal zu berichten begannen.

 

Unterstützt wurden sie von den Medien, die ihre Geschichten in die Gesellschaft transportierten und von der historischen Wissenschaft, die den Erzählungen der Opfer Glaubwürdigkeit verliehen. Ohne diese mutigen Menschen wären die Hergänge rund um die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wohl nie ans Licht gekommen.

 

Heute haben wir uns hier in diesem hohen Haus versammelt, um der Opfer dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu gedenken. Doch es darf nicht bei diesem Gedenkanlass bleiben, so wichtig er auch ist.

 

Die Opfer erwarten von den Behörden des Kantons Tessin und von der Politik, dass sie die unangenehmen Wahrheiten der Zwangsversorgungen von Kindern und Jugendlichen in Heime, Anstalten und zu bäuerlichen Pflegefamilien ans Licht bringt und schonungslos aufklärt.

 

Man kann, was geschehen ist, und wenn das Unrecht noch so gross gewesen ist, nicht ungeschehen oder gar rückgängig machen. Man kann aber daran Anteil nehmen, indem man die erfahrenen und erlittenen Geschichten bestätigt und sie als wahre Geschehnisse entgegen nimmt. Man kann offiziell um Entschuldigung bitten -was für die Betroffenen psychologisch womöglich die wichtigste Form für ihre Entlastung ist - man kann sie entschädigen und so Wiedergutmachung zeigen. Durch die Öffentlichmachung dessen, was geschehen ist, können die Behörden heute den damals Entrechteten das wichtigste Gut zurückgeben: dass sie existieren und schon immer existiert haben.

 

 

Nur wer die Vergangenheit anerkennt, kann die Zukunft gestalten.   

 

Ich danke dem Parlamentspräsidenten, Walter Gianola und dem Präsidenten des Regierungsrates, Manuele Bertoli, dass sie mir die Möglichkeit gegeben haben hier zu sprechen.

 

Und ich danke Ihnen allen, dass sie mir zugehört haben.